Geldanlage
Wie du mit Factor Investing dein Portfolio optimierst
Lesedauer: 8 Minuten
31.01.2025
Darum geht's
Stell dir vor, ein Patient kommt morgen früh mit Knieschmerzen in deine Praxis. Würdest du ihm eine Therapie empfehlen, nur weil "das schon immer so gemacht wurde"? Natürlich nicht. Du würdest nach der besten aktuell verfügbaren Evidenz suchen - randomisierten Studien, systematischen Reviews, aktuellen Leitlinien.
Aber wenn es um unsere eigenen Finanzen geht, sieht die Sache leider oft anders aus. Selbst wir Mediziner, die sonst auf wissenschaftliche Evidenz schwören, verlassen uns bei der Geldanlage häufig auf Bauchgefühl oder einfache Faustregeln. Da empfiehlt der Bankberater die klassische 60/40-Aufteilung zwischen Aktien und Anleihen, oder wir kaufen einfach einen ETF, der den MSCI World nachbildet. Klingt vernünftig - ist aber etwa so, als würden wir einen Patienten wie vor 50 Jahren behandeln.
Dabei gibt es auch für erfolgreiche Geldanlage längst wissenschaftlich fundierte Strategien. Eine der spannendsten ist das Factor Investing, welches auf jahrzehntelanger Kapitalmarktforschung basiert und für das es sogar einen Nobelpreis gab.
In diesem Artikel zeigen wir dir, wie du diese evidenzbasierte Anlagestrategie für dein eigenes Portfolio nutzen kannst. Wir schauen uns zunächst die wissenschaftlichen Grundlagen an - sozusagen die "Studienlage" zur Wirksamkeit verschiedener Anlagefaktoren. Danach geht's ganz praktisch darum, wie du diese Erkenntnisse in deiner eigenen Vermögensplanung umsetzen kannst.
Was ist Factor Investing?
Erinnerst du dich noch daran, als du im Medizinstudium zum ersten Mal von evidenzbasierter Medizin gehört hast? Ähnlich revolutionär war es, als Forscher entdeckten, dass auch an der Börse eben nicht alles dem Zufall folgt. Was sie herausfanden, war erstaunlich: Bestimmte Eigenschaften von Aktien – wir nennen sie heute Faktoren – führen auf lange Sicht hin systematisch zu besseren Renditen. Das klingt zunächst unglaublich, wurde aber über Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich belegt.
Die Pioniere des Factor Investing
Die Geschichte des Factor Investing beginnt in den frühen 1990er Jahren, als zwei Wissenschaftler, Eugene Fama und Kenneth French, eine bahnbrechende Entdeckung machten. Sie wiesen nach, dass der Erfolg von Aktien nicht nur vom allgemeinen Marktrisiko abhängt.
Zwei weitere Faktoren spielen eine entscheidende Rolle: Zum einen, ob eine Aktie im Vergleich zum Buchwert günstig bewertet ist (Value-Faktor) und zum anderen, wie groß das Unternehmen ist (Size-Faktor). Diese Erkenntnis war so bedeutend, dass Fama dafür 2013 den Nobelpreis erhielt.
Von der Theorie zur systematischen Anlagestrategie
Wie bei vielen wissenschaftlichen Durchbrüchen war dies erst der Anfang. Weitere Forscher entdeckten zusätzliche Faktoren: Mark Carhart zeigte, dass Aufwärtstrends dazu neigen, sich fortzusetzen (Momentum-Faktor). Robert Novy-Marx bewies, dass profitable Unternehmen mit stabilen Geschäftsmodellen besonders gut abschneiden (Qualitätsfaktor). Die Daten für diese Erkenntnisse reichen teilweise bis 1926 zurück.
Der große Unterschied zu klassischen Anlagestrategien liegt in der systematischen Herangehensweise. Statt auf Bauchgefühl oder die Auswahl von Einzelaktien zu setzen, nutzt Factor Investing wissenschaftlich nachgewiesene Zusammenhänge. Das Ergebnis ist eine transparente, regelbasierte Strategie, die persönliche Vorurteile minimiert und gleichzeitig die Vorteile breiter Streuung nutzt.
Die fünf Faktorprämien Value, Size, Momentum, Quality und Low-Volatility

Die Klassiker: Value und Size - Die Entdeckungen von Fama und French
Manchmal findet man beispielsweise in enem Elektromarkt zufällig ein hochwertiges Produkt zu einem sehr günstigen Preis. Genauso funktioniert der Value-Faktor an der Börse. Er identifiziert systematisch Unternehmen, die der Markt gerade "zu günstig" bewertet.
Wie messen wir das? Ganz einfach: durch Kennzahlen wie das Kurs-Buchwert-Verhältnis - quasi den "Preis pro Substanz" eines Unternehmens. Die Zahlen sprechen für sich: Über 90 Jahre hinweg haben diese "Schnäppchen-Aktien" im Schnitt im Vergleich zum Gesamtmarkt eine Überendite erwirtschaftet.
Beim Size-Faktor geht es um David gegen Goliath: Kleinere Unternehmen schlagen systematisch ihre größeren Konkurrenten. Warum? Kleine Firmen haben es oft schwerer - sie bekommen nicht so leicht Kredite, werden von weniger Analysten beobachtet und ihre Aktien sind schwieriger zu handeln. Aber genau diese Nachteile werden durch höhere Renditen belohnt.
Die moderne Trias: Momentum, Quality und Low Volatility
Der Momentum-Faktor nutzt eine zutiefst menschliche Eigenschaft: Erfolg zieht weiteren Erfolg an. Aktien, die in den letzten Monaten gut liefen, setzen diesen Trend oft fort. Das brachte in der Vergangenheit im Schnitt ebenfalls eine Überrendite.
Beim Quality-Faktor geht es um die "Langweiler" der Börse: profitable Unternehmen mit stabilen Gewinnen und soliden Bilanzen. Sie sind wie der zuverlässige Kollege in der Klinik - nicht spektakulär, aber immer da, wenn man ihn braucht.
Der Low-Volatility-Faktor ist besonders interessant: Ausgerechnet die Aktien mit weniger Kursschwankungen bringen langfristig bessere Renditen. Das widerspricht der klassischen Lehre, dass höheres Risiko auch höhere Renditen bringen muss. Die "ruhigen" Aktien schafften in der Vergangenheit ebenfalls eine Überrendite im Vergleich zum Gesamtmarkt - ein Beweis dafür, dass an der Börse manchmal weniger mehr ist.
Die optimale Portfoliostruktur mit Faktorprämien

Lass uns das Factor Investing mal mit der Verschreibung von Medikamenten vergleichen. Auch dort stehst du regelmäßig vor der Entscheidung, ein Kombinationspräparat oder doch besser einzelne Wirkstoffe zu verschreiben? Genauso verhält es sich bei der praktischen Umsetzung des Factor Investing.
Der "All-in-One" Ansatz: Multi-Faktor-ETFs
Stell dir vor, du verschreibst einem Patienten ein Kombinationspräparat gegen Bluthochdruck. Alle Wirkstoffe sind bereits perfekt aufeinander abgestimmt - genau so funktioniert ein Multi-Faktor-ETF. Er vereint verschiedene Anlagefaktoren in einem einzigen Produkt.
Was spricht für diesen Ansatz?
Du sparst viel Zeit bei der Verwaltung
Die Gesamtkosten sind meist niedriger
Die "Wechselwirkungen" zwischen den Faktoren werden professionell gemanagt
Du musst dich nicht um regelmäßige Anpassungen kümmern
Die Kehrseite ist, dass du ein Stück Kontrolle abgibst. Die Dosierung der einzelnen "Wirkstoffe" bestimmt der ETF-Anbieter. Außerdem bist du an dessen Methodik gebunden.
Der "Baukasten" Ansatz: Einzelne Faktor-ETFs
Die Alternative ist, wie bei einer personalisierten Therapie, jeden Faktor einzeln zu dosieren. Du wählst für jeden Faktor einen spezialisierten ETF und bestimmst selbst die genaue Mischung.
Die Vorteile liegen auf der Hand:
Du hast volle Kontrolle über die Gewichtung jedes Faktors
Du kannst die Strategie flexibel an deine Bedürfnisse anpassen
Für jeden Faktor kannst du den besten Anbieter wählen
Aber wie in der Medizin gilt: Mehr Präzision bedeutet auch mehr Aufwand. Du musst die Wechselwirkungen zwischen den Faktoren selbst im Auge behalten und regelmäßig nachjustieren.
Was passt zu dir?
Die Entscheidung hängt vor allem von deinem Zeitbudget ab. Hand aufs Herz: Wie viel Zeit kannst und willst du in dein Portfolio investieren?
Wenn du neben Klinik oder Praxis wenig Zeit für deine Geldanlage hast, ist der "All-in-One" Ansatz vermutlich die bessere Wahl. Er bietet solide Ergebnisse bei minimalem Aufwand.
Wenn du dich dagegen intensiver mit deinen Investments beschäftigen möchtest und Freude an der präziseren Steuerung hast, könnte der "Baukasten" Ansatz genau das Richtige sein.
Wichtig ist nur: Bleib deiner Strategie treu, denn die positive Wirkung von Faktorprämien zeigt sich erst über Jahre bzw. Jahrzehnte.
Mehr zum Thema Portfoliostrukturierung und -diversifikatioin findest du auch in diesem Blogartikel.
Wie kann man Factor Investing in ein bestehendes Portfolio integrieren?

Erst verstehen, dann handeln: Die Analyse deines bestehenden Portfolios
Bevor du in die Welt des Factor Investing eintauchst, solltest du wissen, wo du aktuell stehst. Überraschenderweise stecken in vielen Portfolios bereits Faktorstrategien - nur eben unbeabsichtigt.
Ein Beispiel: Schau dir mal deine Tech-Aktien oder Tech-ETFs an. Die meisten von ihnen setzen automatisch auf schnelles Wachstum - sie haben also eine starke Growth-Ausrichtung. Wenn du dagegen beispielsweise in einen Dividenden-ETF investierst, sind die darin enthaltenen Aktien oft gleichzeitig Value- und Qualitätsaktien. Solche versteckten Faktormuster gilt es zunächst aufzudecken.
Die sanfte Integration: Schritt für Schritt zum Faktorportfolio
Wenn du dich für den Baukasten-Ansatz mit einzelnen Faktor-ETFs entscheidest, empfehle ich dir eine schrittweise Integration. Hier ist ein bewährter Fahrplan:
Monat 1-2: Fange mit den "defensiven" Faktoren an. Low Volatility und Quality können ein Stabilitätsanker für das Portfolio sein. Sie reduzieren die Schwankungen und sorgen für mehr Stabilität.
Monat 3-4: Zeit für den Value-Faktor. Er ist der bewährteste aller Faktoren und sorgt für zusätzliche Renditechancen.
Monat 5-6: Jetzt kommen Momentum und Size ins Spiel. Diese Faktoren können zwar kurzfristig schwanken, bringen aber langfristig interessante Zusatzerträge.
Diese gestaffelte Vorgehensweise hat einen großen Vorteil: Du kannst bei jedem Schritt beobachten, wie sich dein Portfolio verändert. Falls etwas nicht nach Plan läuft, kannst du frühzeitig gegensteuern - genau wie bei der Therapieüberwachung in der Klinik.
Monitoring und Rebalancing eines Faktorportfolios

Regelmäßige Kontrollen sind auch beim Portfoliomanagement der Schlüssel zum Erfolg. Etwa einmal im Quartal solltest du einen gründlichen Portfolio-Check durchführen. Weichen deine Faktorgewichtungen mehr als 5% von deinen Zielwerten ab? Dann ist es Zeit zum Nachjustieren.
Dabei gilt: Nicht jede kleine Abweichung erfordert sofort eine Korrektur. Definiere dir vernünftige Toleranzbereiche - das spart Handelskosten und schont deine Nerven. Am besten machst du diese Überprüfung zu festen Terminen, etwa zum Quartalsende.
Die häufigsten Fehler vermeiden
Der größte Fallstrick beim Factor Investing ist interessanterweise nicht die Strategie selbst - sondern unsere eigene Psychologie. Besonders verlockend ist das sogenannte Faktor-Timing: Der Versuch, zum "perfekten" Zeitpunkt zwischen verschiedenen Faktoren hin und her zu springen.
Das führt oft zu klassischem Herdenverhalten: Wir kaufen Faktoren, die gerade gut laufen (und damit teuer sind), und verkaufen die schwächelnden (die vielleicht gerade günstig zu haben wären). Selbst erfahrene Investoren tappen in diese Falle.
Systematisches Monitoring statt emotionaler Entscheidungen
Statt hektischer Anpassungen brauchst du ein systematisches Überwachungssystem. Konzentriere dich dabei auf vier Kernbereiche:
Wie entwickeln sich die Faktorrenditen im Vergleich zu ihrer historischen Performance?
Wie stark schwanken die einzelnen Faktoren (Volatilität)?
Wie gut ergänzen sich die Faktoren gegenseitig (Korrelationen)?
Bleiben die Gesamtkosten im geplanten Rahmen?
Denk daran: Verschiedene Marktphasen verlangen verschiedene "Medikamente". Quality und Low Volatility sind Stabilisatoren in Krisenzeiten, während Value und Momentum in Aufschwungphasen besonders gut wirken. Aber Vorsicht: Große strategische Umschichtungen sind selten eine gute Idee. Bleib bei deiner Grundstrategie und nimm nur vorsichtige Feinjustierungen vor.
Fazit
Als Ärztin oder Arzt bist du es gewohnt, Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz zu treffen. Genau diesen Ansatz ermöglicht dir Factor Investing auch bei deiner Geldanlage. Die Faktorprämien sind keine Theorie, sondern über Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich belegt.
Besonders spannend: Die Umsetzung ist heute einfacher denn je. Moderne Factor-ETFs machen diese Anlagestrategie so zugänglich wie nie zuvor. Du musst kein Finanzgenie sein, um sie zu nutzen.
Der Einstieg gelingt am besten in vier Schritten:
Erst die Diagnose: Analysiere dein bestehendes Portfolio auf versteckte Faktoreinflüsse
Dann die schrittweise Therapie: Integriere deine gewünschten Faktor-ETFs nach und nach
Gefolgt von regelmäßigen Kontrollen: Überwache dein Portfolio systematisch
Mit behutsamer Anpassung: Justiere dein Portfolio bei Bedarf nach
Die Entwicklung des Factor Investing ist noch lange nicht abgeschlossen. Künstliche Intelligenz und Machine Learning werden uns in der Zukunft helfen, Faktorprämien noch präziser zu identifizieren. Eines ist sicher: Factor Investing wird die wissenschaftlich orientierte Art der Geldanlage bleiben und eignet sich für alle, die auch bei ihren Investments auf handfeste Evidenz setzen möchten.
Weiterführende Ressourcen
Souverän investieren mit Indexfonds und ETFs: Ein Investmentbuch für fortgeschrittene Privatanleger* von Gerd Kommer
Your Complete Guide to Factor-Based Investing* von Andrew Berkin und Larry Swedroe
Factor Investing for Dummies* von James Maendel und Paul Mladjenovic
*Affiliate Link: Finanzskalpell.com ist Teilnehmer des Amazon-Partnerprogramm, das zur Bereitstellung eines Mediums für Webseiten konzipiert wurde, mittels dessen durch die Platzierung von Partner-Links zu Amazon.de Entgelte verdient werden können.
Neueste Artikel
Newsletter und kostenloses E-Book